Politik
5.9.2025

Handicap und Politik 5/2025

Reichlich Arbeit für den Ständerat im Bereich der Behindertenpolitik, ein Standbericht BehiG-Umsetzung im ÖV zum Stirnrunzeln und das Thema Behinderung im Fokus von Bildungsangeboten.

Ausblick auf die Herbstsession: Nationalrat

Die Existenz von IV-Rentenbezüger:innen nachhaltig sichern
24.09.2025; 25.3534 Po. SGK-N: Mehr als die Hälfte der Menschen mit einer IV-Rente bezieht Ergänzungsleistungen. Das zeigt, dass die Rente oftmals finanziell nicht ausreicht. Auf Grundlage des Postulats der Sozialkommission des Nationalrats 25.3534 soll der Bundesrat deshalb prüfen, welche Massnahmen die Existenz der IV-Rentenbezüger:innen nachhaltig sichern können. Für Inclusion Handicap ist klar, dass hier eine dringende Handlungspflicht besteht – die Sicherung der finanziellen Existenz darf für Menschen mit Behinderungen nicht eine zusätzliche Belastung sein. Der Dachverband empfiehlt dem Nationalrat daher, seiner Kommission zu folgen und das Postulat anzunehmen.

Zum Postulat 25.3534 auf Curia Vista

Nicht länger Gratis-Assistenzarbeit der Angehörigen tolerieren
26.09.2025; 12.409 pa. Iv. Lohr: Menschen mit Behinderungen können unter gewissen Voraussetzungen mittels IV-Assistenzbeitrag selbstbestimmt und autonom im eigenen Zuhause leben. Assistenzleistungen von nahen Angehörigen dürfen jedoch nicht über den IV-Assistenzbeitrag entschädigt werden. Mit einer bereits 2012 eingereichten parlamentarischen Initiative fordert Mitte-Nationalrat Christian Lohr eine Änderung des Invalidenversicherungsgesetzes (IVG), so dass Assistenzleistungen von Angehörigen im Rahmen des Assistenzbeitrags entschädigt werden können. Nachdem die Sozialkommissionen beider Räte der Initiative Folge gegeben haben, ist das Geschäft schon lange hängig. Nun soll die Frist zur Behandlung der pa.Iv. ein weiteres Mal verlängert werden. Dabei wären konkrete Schritte dringend notwendig. Diese können im Rahmen des Gegenvorschlags zur Inklusions-Initiative unternommen werden. 

Zur pa.IV 12.409 auf Curia Vista

Ausblick auf die Herbstsession: Ständerat

Wichtige Rechtslücke in der Unfallversicherung schliessen
11.09.2025; BRG 24.056: Die Vorlage sieht eine Anpassung des Unfallversicherungsgesetzes (UVG) vor, damit bei Rückfällen und Spätfolgen eines Unfalls, der nicht durch das UVG versichert war und sich vor Vollendung des 25. Lebensjahrs ereignet hatte, ein Anspruch auf Taggelder besteht. Das Geschäft geht auf eine Motion aus dem Jahre 2011 zurück (11.3811) und wurde in der Sommersession vom Nationalrat unterstützt. Auch wenn Inclusion Handicap in seiner Vernehmlassungsantwort nicht nur einen Anspruch auf Unfalltaggelder, sondern auch auf weitergehende UVG-Leistungen gefordert hatte, empfiehlt der Dachverband dem Ständerat, seiner Kommission zu folgen und dieses wichtige Geschäft anzunehmen.

Zum Geschäft 24.056 auf Curia Vista

Menschen mit Behinderungen endlich ihre politischen Rechte zusprechen
15.09.2025; 24.4266 Mo SPK-N: Menschen mit Behinderungen, die unter einer umfassenden Beistandschaft stehen oder von einer vorsorgebeauftragten Person vertreten werden, sind vom Stimmrecht ausgeschlossen. Das ist nicht mit der UNO-Behindertenrechtskonvention vereinbar. Der Nationalrat hat einer entsprechenden Verfassungsänderung bereits zugestimmt. Nun hat es auch der Ständerat in der Hand, sich gegen den diskriminierenden Stimmrechtsausschluss auszusprechen. Für Inclusion Handicap eine Notwendigkeit, denn auch Menschen unter umfassender Beistandschaft können und wollen sich eine politische Meinung bilden. Der Dachverband empfiehlt dem Ständerat daher, seiner Kommission zu folgen und der Beendigung des Stimmrechtsausschusses zuzustimmen.

Zur Motion 24.4266 auf Curia Vista

Erwerbsersatz: Klarere Regeln bei Betreuungsentschädigung bei Spitalaufenthalt gefordert
18.09.2025; BRG 25.039: Der Bundesrat will die Leistungen der Erwerbsersatzordnung vereinheitlichen. Zudem soll der Anspruch auf Betreuungsentschädigung auf diejenigen Fälle ausgeweitet werden, in denen ein Kind an mindestens vier aufeinanderfolgenden Tagen hospitalisiert ist. Die Sozialkommission des Ständerates unterstützt die Vorlage des Bundesrates und beantragt ihrem Rat einstimmig, dass die Betreuungsentschädigung auch bei einem Spitalaufenthalt direkt nach der Geburt ausgerichtet werden kann, wenn das Kind gesundheitlich schwer beeinträchtigt ist. Inclusion Handicap empfiehlt dem Ständerat das Geschäft zur Annahme, damit in prekären Situationen die Anwesenheit beider Elternteile ermöglicht werden kann.

Zum Geschäft 25.039 auf Curia Vista

IV-Rentenprüfung mit mehrjähriger Wartezeit verhindern
18.09.2025; 23.3808 Mo. von Falkenstein: Nachdem sich der Nationalrat für die Beschleunigung von IV-Verfahren ausgesprochen hat, entscheidet nun auch der Ständerat über die entsprechende Motion. Dabei soll die IV-Rentenprüfung beschleunigt und die finanzielle Belastung der Betroffenen aufgrund der teils mehrjährigen Wartezeit bis zum definitiven Bescheid verhindert werden. Aus Sicht von Inclusion Handicap ein längst notwendiger Schritt, um die Verschuldung der Betroffenen zu vermeiden und die psychisch hohe Belastung zu reduzieren. Der Dachverband empfiehlt dem Ständerat daher, seiner Kommission zu folgen und die Motion anzunehmen.

Zur Motion 23.3808 auf Curia Vista

Den Grundstein für unabhängige medizinische Gutachterzentren legen
18.09.2025; 24.3226 Mo. Hurni: Die Motion 24.3226 verlangt vom Bundesrat, gesetzliche Grundlagen für unabhängige medizinische Gutachterzentren zu schaffen. Ein wichtiges Thema, denn die Transparenz und Unabhängigkeit bei medizinischen Gutachten ist längst nicht überall gegeben und ist eine langjährige Forderung von Inclusion Handicap. Der Dachverband empfiehlt dem Ständerat daher, die Motion anzunehmen.

Zur Motion 24.3226 auf Curia Vista

Schutzfrist soll Wiedereingliederung sicherer machen
18.09.2025; 24.4618 Mo. Roduit: Personen mit einer IV-Rente, die eine Erwerbstätigkeit aufnehmen oder ausweiten, erhalten heute bei einem Rückfall innerhalb einer dreijährigen Schutzfirst die ursprüngliche Rente wieder ausbezahlt. Im jetzigen System erfolgt in einem solchen Fall unmittelbar eine generelle IV-Rentenüberprüfung. Dadurch besteht bei Menschen, welche ihre Eingliederung selbstständig angehen wollen, die Gefahr, bei einem Rückfall ohne Job und je nach Ergebnis der Neuüberprüfung ohne Rente (samt EL) dazustehen – ein Faktor, der die Wiedereingliederung stark bremst. Gemäss der Motion von Mitte-Nationalrat Benjamin Roduit soll eine IV-Rentenüberprüfung erst nach Ablauf der dreijährigen Schutzfrist stattfinden. Dadurch können negative Beschäftigungsanreize beseitigt werden. Der Nationalrat hat die Motion bereits angenommen und Inclusion Handicap zählt darauf, dass auch der Ständerat die Fehlanreize bei der Wiedereingliederung abschaffen will. Der Dachverband empfiehlt dem Ständerat daher, die Motion anzunehmen.

Zur Motion 24.4618 auf Curia Vista

Berufliche Eingliederung auch bei kommunikationsintensiven Berufen ermöglichen

18.09.2025; 25.3007 Mo. SGK-N: Um die Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, unterstützt die Invalidenversicherung Betroffene bei der Eingliederung mit Hilfsmitteln, darunter Dienstleistungen von Dritten. Dazu zählen beispielsweise Gebärdensprachdolmetscher:innen, Vorlese- oder Transportdienste. Die aktuelle Finanzierungspraxis schränkt Betroffene in ihrer Berufswahl stark ein und hindert sie an der Ausübung kommunikationsintensiver Berufe. Die in der Motion 25.3007 geforderte Einführung von Härtefällen soll Abhilfe schaffen und Betroffene in festgelegten Fällen durch zusätzliche Beiträge gezielt unterstützen. Der Nationalrat hat das Geschäft bereits angenommen. Inclusion Handicap fordert nun den Ständerat dazu auf, den wichtigen Schritt zur beruflichen Eingliederung ebenfalls zu tun und die Motion anzunehmen. 

Zur Motion 25.3007 auf Curia Vista

Zeitgemässe medizinische Versorgung für Menschen mit ME/CFS und Long Covid sicherstellen
18.09.2025; 24.4452 Mo. Hess: Die Schweiz steht im Vergleich zum Ausland hinten an, wenn es um Forschung und Kompetenzen rund um Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) und Long Covid geht. Mit der Motion 24.4452 will Mitte-Nationalrat Lorenz Hess den Bundesrat beauftragen, in Zusammenarbeit mit den betroffenen Akteuren eine nationale Strategie für ME/CFS und Long Covid zu erarbeiten. Ziel ist, dass die Patient:innen in der ganzen Schweiz medizinisch gleich gut versorgt werden. Der Nationalrat hat diesem Anliegen bereits zugestimmt. Inclusion Handicap empfiehlt dem Ständerat, die Motion ebenfalls anzunehmen.

Zur Motion 24.4452 auf Curia Vista

IV-Entschuldung braucht mehr als Sparmassnahmen
18.09.2025; 25.3713 Mo. Müller: Die IV hat rund 10 Milliarden Franken Schulden bei der AHV. Die neuesten Finanzperspektiven zeigen nochmals deutlicher, dass die IV zurzeit unterfinanziert ist. Eine Entschuldung vorwiegend mit ausgabeseitigen Massnahmen, wie sie FDP-Ständerat Damian Müller fordert, ist unrealistisch. Inclusion Handicap ist bereit, im Rahmen der kommenden IV-Revision Massnahmen zur Entschuldung der IV zu prüfen. Dafür braucht es aber neben Massnahmen zur Senkung der Neurentenquote auch einnahmeseitige Massnahmen. Deshalb empfiehlt Inclusion Handicap die Motion 253713 abzulehnen.  

Zur Motion 25.3713 auf Curia Vista

Gleichstellung

Standbericht verdeutlicht Missstand bei der Barrierefreiheit im ÖV
Die volle Barrierefreiheit im ÖV ist ein bis heute nicht eingelöstes Versprechen an die 1.9 Mio. Menschen mit Behinderungen in der Schweiz. Dabei hätte die Umsetzung der BehiG-Vorgaben im ÖV bereits bis Ende 2023 abgeschlossen werden müssen. Wie der im Juli erschienene Standbericht 2025 des Bundesamts für Verkehr BAV zeigt, gibt es aktuell keine Hoffnung auf schnelle Besserung. Auch per Ende 2024 war rund ein Drittel der Schweizer Bahnhöfe nicht barrierefrei nutzbar. Zudem erschreckend: Die Vierjahresprognosen stagnieren und verschlechtern sich in der Tendenz sogar. 

Zum Standbericht des BAV

Sozialversicherungen

IV-Finanzperspektiven: Jetzt braucht es eine Zusatzfinanzierung
Das Bundesamt für Sozialversicherungen BSV präsentierte am 20.08.2025 die aktualisierten Finanzperspektiven der IV. Gemäss den neusten Zahlen verschlechtert sich die finanzielle Lage der IV in den nächsten Jahren weiter: Rund drei Prozent der jährlichen Ausgaben können nicht mit den Einnahmen gedeckt werden – dies trotz massiven Leistungskürzungen in den letzten zwanzig Jahren. Klar ist: Weitere Sparmassnahmen auf Kosten der Betroffenen liegen nicht drin – bereits heute ist rund die Hälfte der Anspruchsberechtigten auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Was es stattdessen braucht, ist eine Zusatzfinanzierung. Der Bund zieht eine solche im Rahmen der nächsten IV-Revision bereits in Erwägung. Zudem müssen die heute viel zu hohen Schuldzinssätze der IV gesenkt werden. Klar ist ebenfalls, dass dem Anstieg bei den Neurenten, insbesondere bei Personen unter 30 Jahren, begegnet werden muss. Die Abschaffung von Renten an Personen unter 30 Jahren wie kürzlich gefordert, wäre nicht zielführend. Ohne gesicherten Lebensunterhalt wird nur weiterer, der Gesundheit schädigender Druck ausgeübt. Stattdessen sollten das bereits bestehende Instrument der Fallführung stärker genutzt und junge Erwachsene bei der beruflichen Eingliederung besser und länger unterstützt werden.

Zur Medienmitteilung des Bundesrats

Politische Vorhaben

Mit der E-ID zu einer inklusiven und digitalen Schweiz
Die elektronische Identität (E-ID) ermöglicht insbesondere für Menschen mit Behinderungen eine verstärkte Teilhabe im digitalen Raum und darüber hinaus. Sie baut Barrieren beim Zugang zu Behörden und Ämtern ab und erleichtert auch die politische Partizipation. Etwa beim Unterzeichnen von Initiativen und Referenden, eröffnet sie insbesondere Menschen mit motorischen oder Sehbehinderungen neue Möglichkeiten. Inclusion Handicap empfiehlt deshalb das Bundesgesetz über den elektronischen Identitätsnachweis BGEID bei der Volksabstimmung am 28. September 2025 zur Annahme.

Zur Medienmitteilung

Delegierte richten sich mit Resolution an Bundesrat und Parlament
An der Delegiertenversammlung (DV) verabschiedeten die Delegierten von Inclusion Handicap eine Resolution für eine weitsichtige Behindertenpolitik. Anlass dafür war der enttäuschende Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative, den der Bundesrat Ende Juni präsentierte. 

Die Hauptkritikpunkte am Gegenvorschlag sind folgende:

  1. Das Inklusionsgesetz bietet keinen Rahmen für eine fortschrittliche Behinderten- und Inklusionspolitik und operiert mit einem engen Behinderungsbegriff.
  2. Im Bereich Wohnen wird die Chance verpasst, einen Rechtsanspruch von Menschen mit Behinderungen auf selbstbestimmtes Wohnen zu verankern und die Verpflichtungen von Bund und Kantonen klarzustellen sowie im Rahmen einer gemeinsamen Strategie anzugehen.
  3. Bei den Massnahmen im Invalidenversicherungsgesetz wird zudem die Möglichkeit verpasst, den Zugang zu notwendigen Assistenz- und Unterstützungsleistungen sowie modernen Hilfsmitteln zu öffnen und diese Leistungen zu stärken.

Ihre Anliegen konnten die Delegierten direkt an die anwesende Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider herantragen, die sich an der DV zum Gegenvorschlag äusserte. 

Zur Medienmitteilung

Projekte

Barrierefreiheit im Fokus von Bildungsangeboten
Themen wie Behinderung und Barrierefreiheit rücken zunehmend in den Fokus von Bildungsangeboten. So startet die Pädagogische Hochschule Bern im November 2025 erstmals den CAS «Arbeitssettings und Kommunikation inklusiv gestalten». Als Dozentin dabei ist Caroline Hess-Klein, Mitglied der Geschäftsleitung und Leiterin der Abteilung Gleichstellung bei Inclusion Handicap. Auch an der Universität Zürich wird das Thema aufgegriffen: Dort findet eine Ringvorlesung mit dem Titel «Behinderung und Inklusion aus interdisziplinärer Perspektive» statt.

Zum CAS der Pädagogischen Hochschule Bern
Zur Ringvorlesung an der Universität Zürich