Politik
11.7.2025

Handicap und Politik 4/2025

Ein Rückblick auf mehrheitlich erfreuliche Entscheide in der Sommersession, Sonnenblumen im ÖV zur Sensibilisierung – und enttäuschende Gewissheit für 1.9 Millionen Menschen mit Behinderungen: Der Bundesrat verfehlt es, mit dem indirekten Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative die Inklusion in der Schweiz endlich voranzutreiben.

Rückblick auf die Sommersession: Nationalrat

Wichtige Rechtslücke in der Unfallversicherung schliessen
Der Nationalrat hat mit 101 zu 81 Stimmen bei 8 Enthaltungen eine Anpassung des Unfallversicherungsgesetzes (UVG) beschlossen, damit bei Rückfällen und Spätfolgen eines Unfalls, der nicht durch das UVG versichert war und sich vor Vollendung des 25. Lebensjahrs ereignet hatte, ein Anspruch auf Taggelder besteht. Das Geschäft geht auf eine Motion aus dem Jahre 2011 zurück (11.3811) und kommt nun in den Ständerat. In ihrer Sitzung vom 26./27. Juni 2025 hat sich bereits dessen Sozialkommission damit befasst und empfiehlt ihrem Rat die Annahme des Gesetzesanpassung.

Auch wenn Inclusion Handicap in seiner Vernehmlassungsantwort nicht nur einen Anspruch auf Unfalltaggelder, sondern auch auf weitergehende UVG-Leistungen gefordert hatte, empfiehlt der Dachverband dem Ständerat, seiner Sozialkommission zu folgen und diese für in jungen Jahren verunfallte Personen wichtige Anpassung des UVG anzunehmen.

Zum Geschäft 24.056 auf Curia Vista

Klare Regelungen von Gebärdensprach-Dolmetschleistungen im Gesundheitswesen getroffen
Der Nationalrat folgt der kleinen Kammer und hat sich mit 122 zu 59 Stimmen ohne Enthaltungen deutlich für eine klare Regelung zur Übernahme von Gebärdesprach-Dolmetschkosten bei medizinischen Dienstleistungen ausgesprochen. Dadurch sollen die Verständigung von Patient:innen und Fachpersonal ermöglicht und vereinfacht sowie die medizinische Qualität und Patient:innensicherheit erhöht werden. Inclusion Handicap freut sich über diesen wichtigen Schritt hin zu einer inklusiveren Gesundheitsversorgung. 

Zur Motion 25.3013 auf Curia Vista

Nationalrat will Testbetrieb für digitale Unterschriftensammlung ermöglichen
Verschiedene gleichlautende Motionen fordern ein Pilotprojekt, um das E-Collecting gestützt auf das Bundesgesetz über die politischen Rechte zu erproben. Dabei soll die E-ID-Vertrauensinfrastruktur als technische Grundlage dienen. Auch die Motion 24.3851 fordert eine künftige Unterschriftensammlung über digitale Kanäle. Sie wurde dahingehend abgeändert, dass neu alle Motionen gleich lauten. Der Nationalrat hat nun einem Testbetrieb zugestimmt. 

Zur Motion 24.3851 auf Curia Vista

 

Rückblick auf die Sommersession: Ständerat

Ständerat beschliesst Verbesserungen bei der Nachtassistenz und bei WG’s von Personen mit Rollstuhl
Das Parlament hat die Differenzen im Ergänzungsleistungsgesetz zum betreuten Wohnen von älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen ausgeräumt. Insbesondere die Zuschläge bei den Wohnkosten für Personen mit einer Nachtassistenz und für den Fall, dass mehrere Personen mit Rollstuhl im selben Haushalt wohnen, stellen wesentliche Verbesserungen für die Betroffenen dar. Zudem hat das Parlament beschlossen, dass auch Personen, die teilweise in einer Institution und teilweise zu Hause leben, Leistungen für das betreute Wohnen in Anspruch nehmen können. Inclusion Handicap blickt positiv auf die verabschiedeten Änderungen: Seine eingebrachten Forderungen wurden mehrheitlich umgesetzt.

Zum Geschäft 24.070 auf Curia Vista

Überprüfung mangelhafter IV-Entscheide wird möglich
Personen, deren IV-Leistungsanspruch ganz oder teilweise abgelehnt wurde, können heute keine Neubeurteilung verlangen. Selbst dann nicht, wenn das Gutachten nachweislich mangelhaft war. Umso erfreulicher ist es, dass der Ständerat nun als Zweitrat die Schaffung einer Rechtsgrundlage beschlossen hat, damit Versicherte ein Gesuch um Revision stellen können, wenn sich ihr ganz oder teilweise abgelehnter IV-Entscheid auf ein medizinisches Gutachten einer Gutachterstelle oder von Ärzt:innen stützt, mit welchen die Zusammenarbeit aufgrund einer Empfehlung der Eidgenössischen Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB) eingestellt wurde. Er unterstreicht damit die auch von den Behindertenverbänden eingeforderte einwandfreie Qualität von IV-Gutachten.

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Vorberatung zu unabhängigen Zentren für faire medizinische Gutachten eingeleitet
Die Transparenz und Unabhängigkeit bei medizinischen Gutachten ist eine langjährige Forderung von Inclusion Handicap. Mit der Motion 24.3226 würde ein Schritt in die richtige Richtung gemacht, da sie vom Bundesrat verlangt, gesetzliche Grundlagen für unabhängige medizinische Gutachterzentren schaffen. Gestützt auf einen Ordnungsantrag von Ständerätin Flavia Wasserfallen (SP) beschloss der Ständerat die Zuweisung der Motion zur Vorprüfung an die zuständige Sozialkommission.

Zur Motion 24.3226 auf Curia Vista

Keine nationale Strategie für das Wohnen
Das Wohnen in den eigenen vier Wänden rückt bei älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen verstärkt in den Fokus. Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach (Mitte) wollte mit ihrer Motion 23.3366 den Bundesrat beauftragen, gemeinsam mit den Kantonen und subventionierten Organisationen eine nationale Strategie für Betreuung und Wohnen im Alter und bei Behinderung auszuarbeiten. Für Menschen mit Behinderungen ist das selbstbestimmte Wohnen zentral und deshalb auch wichtiger Bestandteil der Inklusions-Initiative. Der Ständerat hat die Motion jedoch abgelehnt, das Geschäft ist damit erledigt.

Zur Motion 23.3366 auf Curia Vista

 

Gleichstellung

COSP in New York: Grosses Interesse an Side-Event zum Thema «Zugang zur Justiz für Menschen mit Behinderungen»
Artikel 13 der UN-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) garantiert Menschen mit Behinderungen das Recht auf gleichberechtigten Zugang zur Justiz – ein zentrales Thema, das Inclusion Handicap im Rahmen der 18. Vertragsstaatenkonferenz der UNO-BRK (COSP) Anfang Juni 2025 in New York mit einem internationalen Fachpublikum diskutiert hat. Im Fokus standen die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit der Zugang für alle Realität wird – etwa barrierefreie Gerichtsdokumente, qualifizierte Gebärdensprachdolmetschung oder eine barrierefreie Infrastruktur. Es zeigte sich deutlich: der barrierefreie Zugang zur Justiz darf keine Frage der Umstände sein. Er ist ein unveräusserliches Menschenrecht.

Sonnenblumen ziehen im ÖV ein
Die SBB hat mit der Unterstützung von 15 Behindertenorganisationen Mitte Juni 2025 das Schlüsselband mit Sonnenblumenmotiv im Grossraum Zürich und Genf eingeführt. Das Band steht für mehr Verständnis für Menschen mit unsichtbaren Behinderungen, wie ADHS, Autismus und psychische Erkrankungen. Betroffene zeigen damit freiwillig und situativ, dass sie eine unsichtbare Behinderung haben. Zudem signalisiert es den SBB Mitarbeiter:innen und den Mitreisenden, dass möglicherweise zusätzliche Hilfe oder mehr Zeit benötigt wird. Das Sunflower Lanyard ist in 16 ausgewählten SBB Reisezentren kostenlos erhältlich.

Mehr zum Sunflower Lanyard der SBB

 

Sozialversicherungen

Brief an Bundesrat für wirksame Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen
In einem gemeinsamen Brief an den Bundesrat vom 12. Juni 2025 fordern Inclusion Handicap und die Organisationen Procap, Pro Juventute, Pro Mente Sana, Pro Infirmis, Pro Familia und FSP: Die Invalidenversicherung (IV) muss junge Menschen mit psychischen Problemen wirksam unterstützen – durch stärkere Prävention, verbesserte Versorgung und nachhaltige Eingliederung. Junge Menschen mit psychischen Problemen brauchen eine Perspektive, keine neuen Hürden. Die Organisationen stellen sich klar gegen die zuletzt medial diskutierten Vorschläge wie ein Mindestalter für IV-Renten von 30 Jahren oder befristete Rentenleistungen. Diese Massnahmen würden den Druck auf Betroffene erhöhen, ohne die Situation nachhaltig zu verbessern. Im Gegenteil: Sie fördern Verschuldung, Sozialhilfeabhängigkeit und Perspektivlosigkeit. Was es dagegen braucht, ist die Stärkung von Prävention und Eingliederungsmassnahmen sowie ein nachhaltiges und auch bereichsübergreifendes Vorgehen im Hinblick auf die nächste IV-Revision.

Zum vollständigen Brief an den Bundesrat

Mehr Eingliederungsmassnahmen und Zusatzfinanzierung für die IV
Der Bundesrat präsentierte am 20. Juni 2025 die Grundlagen für die nächste IV-Revision. Im Fokus stehen die Senkung der Neurentenquote bei jungen Erwachsenen mit psychischen Erkrankungen und eine mögliche Zusatzfinanzierung der Invalidenversicherung (IV), um der prekären Situation der IV-Finanzen zu begegnen. Inclusion Handicap begrüsst, dass junge Erwachsene stärker begleitet werden sollen. Zudem ist es klar, dass die heute unterfinanzierte IV eine Zusatzfinanzierung benötigt. Umso mehr, wenn die Schulden bei der AHV abbezahlt werden sollen. Zusätzlicher Druck auf junge Menschen durch eine unzureichende Finanzierung des Lebensunterhalts ist hingegen kontraproduktiv und muss vermieden werden (vgl. hierzu den obenerwähnten Brief an den Bundesrat).

Zum ausführlichen Newstext

Bundesrat eröffnet Vernehmlassungsverfahren zu den Ausführungsbestimmungen zur intensiven Frühintervention
Nachdem das Parlament mit einer Änderung des Invalidenversicherungsgesetzes die finanzielle Beteiligung der IV an der intensiven Frühintervention (IFI) bei Kindern mit schweren Autismus-Spektrum-Störungen beschlossen hat, hat der Bundesrat gestern die Ausführungsbestimmungen zu dieser Gesetzesänderung in die Vernehmlassung geschickt. Die Verordnung regelt die Modalitäten der IFI, die Voraussetzungen für die Teilnahme an einer IFI, die Modalitäten der Beteiligung der IV an der Übernahme ihrer Kosten sowie die Datenerhebung und -weitergabe zu Statistik- und Aufsichtszwecken. Das Vernehmlassungsverfahren dauert bis zum 16. Oktober 2025. 

Zur Medienmitteilung des BSV

 

Politische Vorhaben

Bundesrat liefert keinen Plan für eine inklusive Schweiz
Die letzten zwei Jahrzehnte haben es gezeigt: ohne einen verbindlichen Plan mit klaren Zielen, Kriterien und Kontrollmechanismen bleibt die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz auf dem Niveau der Jahrtausendwende stehen. Umso enttäuschender war auch der indirekte Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative, den der Bundesrat am 25. Juni präsentierte. Darin bleibt er unkonkret und liefert bei Weitem nicht den dringend geforderten Plan für eine inklusive Schweiz. Es fehlt ein klarer Auftrag an die Kantone bezüglich der freien Wahl der Wohnform und die Finanzierung der dafür notwendigen Unterstützungsleistungen. Auch die freie Wahl des Wohnorts ist nicht gewährleistet. Ein verbesserter Zugang zum Assistenzbeitrag, zu Hilfsmitteln oder persönlichen Dienstleistungen in der Invalidenversicherung bleibt weitgehend aus. Zudem stützt sich der Bundesrat auf einen viel zu engen Behinderungsbegriff, der rund drei Viertel der Menschen mit Behinderungen nicht erfasst. Inclusion Handicap wird sich im nun beginnenden Vernehmlassungsverfahren gemeinsam mit den Behindertenorganisationen dezidiert einbringen und sich für eine grundlegende Korrektur in Richtung einer tatsächlichen Gleichstellung stark machen.

Zur Medienmitteilung

Delegierte fordern mehr Mut von Bundesrat und Parlament
Die Delegierten von Inclusion Handicap richteten sich an der Delegiertenversammlung mit einer Resolution für eine mutigere und weitsichtige Behindertenpolitik an den Bundesrat und das Parlament. Die Delegiertenversammlung fand im Beisein von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider statt, die über den Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative informierte. Inclusion Handicap freut sich, ein neues Vorstandsmitglied und eine neue Mitgliederorganisation willkommen zu heissen.

Zur Medienmitteilung

 

Projekte

Stiller Protest mit lautem Ruf für gleiche Rechte
Auf dem Bundesplatz haben sich am 12. Juni 2025 unzählige Menschen mit und ohne Behinderungen versammelt, um in einem Schweigeprotest auf die fehlende Mitsprache in der Inklusionspolitik hinzuweisen. Im Manifest «Schlüssel zur Inklusion» haben sie ihre Forderungen festgehalten und dieses den Politiker:innen während der Sommersession übergeben. Unter den Parlamentarier:innen waren auch die drei Nationalräte Islam Alijaj, Philipp Kutter und Christian Lohr. Auch sie pochen auf ein klares Gesetz für echte Gleichstellung und Teilhabe. Die Politik hat es nun in der Hand, diese historische Chance zu nutzen und die Forderungen aus dem Manifest als Schlüssel für ein starkes Inklusionsgesetz umzusetzen. 

 

Medienspiegel

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