Es muss nicht gleich der Säntis sein, nicht gleich etwas so Abenteuerliches, ja fast schon Verrücktes. Aber Christof Bötschi möchte wieder einmal einen Berg erklimmen. Irgendwann. Und vor allem: zu Fuss.
Der Betriebsökonom träumt von einer solchen Wanderung, die für ihn seit dem 11. August 2023 nicht mehr möglich ist. An jenem Tag erleidet er einen Gleitschirmunfall – kurz vor der Landung verheddert sich der Schirm in Seilen der Luftseilbahn, Christof Bötschi stürzt mehrere Meter ungebremst zu Boden. Er kann die Beine nicht mehr bewegen und weiss sofort: «Es ist eine ernste Verletzung.» In St. Gallen wird der Ostschweizer ein paar Stunden nach dem Absturz operiert, dort erfährt er auch die Diagnose: inkomplette Paraplegie. Fünf Tage später beginnt im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil die fünfmonatige Rehabilitation.
Mit Orthesen und Stöcken unterwegs
Christof Bötschi sitzt an einem Mittag zu Beginn des Jahres 2025 vor einem Teller Pasta in der Mensa der ETH Zürich und erzählt aus seinem Leben, das ein anderes geworden ist. Auch wenn er sagt: «Ich hatte extrem viel Glück, dass ich überhaupt davongekommen bin. Und wie.»
Wenn der 38-Jährige von Glück spricht, meint er nicht zuletzt: Er kann trotz Querschnittlähmung wieder gehen. Er benötigt zwar Stöcke und Orthesen an beiden Beinen, aber so schafft er es mittlerweile, mehrere hundert Meter zurückzulegen. Auch wenn das Tempo nicht mehr dasselbe ist wie früher. Für die Strecke vom Bahnhof in sein Büro bei der ETH benötigt er eine Viertelstunde statt acht Minuten.
Christof Bötschi, der als Programm-Manager verschiedene Startups unterstützt, verdrängt lange, was die Rückenmarksverletzung bedeutet. In der Reha muss er einen Dämpfer wegstecken, als ihm mitgeteilt wird, dass er fortan «Teil-Fussgänger» sei, also für gewisse Anstrengungen auf einen Rollstuhl angewiesen sein werde. Er setzt grosse Hoffnung in die Therapien, investiert viel Energie, um wieder laufen zu können. Aber als nach fünf Monaten die Erstrehabilitation endet, verlässt er das SPZ im Rollstuhl.
Umzug war nicht zu vermeiden
Christof Bötschi knüpft nicht mehr daran an, wo er vor dem Unfall aufgehört hat. In die geliebte WG in der St. Galler Innenstadt kann er nicht zurückkehren, weil er zu viele Stufen überwinden müsste und kein Lift vorhanden ist. Christof Bötschi zieht – mangels Alternativen – nach Winterthur.
Anfänglich benötigt er für Einkäufe den Rollstuhl. Wenn sich ein Produkt in einer für ihn vermeintlich unerreichbaren Höhe befindet, bittet er niemanden um Unterstützung. Weil er gar keine Hilfe in Anspruch nehmen muss, sondern einfach aufsteht. In solchen Momenten zieht er zuweilen verdutzte und für ihn unangenehme Blicke auf sich. Wie kann sich ein Rollstuhlfahrer selbstständig erheben? Spielt er vielleicht etwas vor? Ist er etwa …
Immer wieder kommt es zu Situationen, in denen Christof Bötschi dieses teils ausgeprägte Schwarz-Weiss-Denken der Gesellschaft erlebt. Wer im Rollstuhl sitzt, kann unmöglich in der Lage sein, selbstständig auch nur ein paar Meter zu gehen. Oder wenn er mit Stöcken unterwegs ist, wird er gelegentlich auf seine Gehhilfen angesprochen. Einmal spottete in Hamburg ein Fremder: «Na, gehts zum Skifahren?»
Die Schwere seiner Rückenmarksverletzung ist ihm auf den ersten Blick nicht anzusehen. Erzählt er jemandem von seiner Querschnittlähmung, merkt er, wie schwer sich Leute mit diesem Thema in seiner Situation tun. Weil sie die inkomplette Paraplegie nicht einordnen können. «Es kommt schon wieder gut» oder «Gute Besserung!» hört er häufig. «Es ist gut gemeint. Aber wenn ich im Rollstuhl sässe, würde das niemand so sagen.»
Er hat das Glück, dass der Unfall ihn nicht zu einer Umschulung zwang. Nach der Reha in Nottwil kehrte er in seinen Beruf zurück. Nach aussen erweckt es den Eindruck, als sei alles wieder wie früher, wenn er am Schreibtisch sitzt. Doch die Realität ist eine andere. Der Mann muss seine Kräfte klug einteilen. Er investiert viel Energie und Zeit in die Therapien, «um möglichst nahe wieder an mein altes Ich zu gelangen». Aber Fakt ist eben auch, dass einiges an Mobilität verloren gegangen ist. Dass vieles anspruchsvoller, zeit- und planungsintensiver sowie komplizierter geworden ist.
Jobcoachin begleitet ihn eng
Die Phase der beruflichen Wiedereingliederung läuft immer noch. Eng begleitet wird er dabei seit dem Ende der Reha von Beatrix Gehriger, Coachin Beruf /Berufsbildung von ParaWork im Schweizer Paraplegiker-Zentrum. Sie protokolliert regelmässig und detailliert, wie sich die Verfassung ihres Klienten entwickelt. Es geht um Bereiche wie Belastbarkeit, Blasen-DarmManagement, Motivation, Ermüdung und Schmerzen oder auch darum, ob Christof Bötschi genügend Energie hat, um soziale Kontakte abseits des beruflichen Alltags zu pflegen. «Eine detaillierte Dokumentation ist sehr wichtig», sagt Beatrix Gehriger, «damit ein möglichst realistisches Bild der beruflichen Situation gezeigt werden kann.»
Ausserdem übernimmt sie koordinative Aufgaben im Austausch mit Vertretenden der Arbeitgeberin und den Beteiligten der zuständigen Sozialversicherungen. Sie fungiert als «Dolmetscherin», um querschnittsspezifische Fragestellungen und Rahmenfaktoren zu klären. In der zweiten Jahreshälfte dürfte die berufliche Wiedereingliederung in eine abschliessende Phase gehen. Danach kommt es zur Prüfung weiterer Leistungen durch die verschiedenen Sozialversicherungen, wie die IV oder Unfallversicherung – und für Beatrix Gehriger endet die Begleitung von Christof Bötschi.
Der Ostschweizer strahlt Zuversicht aus, weiter Fortschritte zu machen. Ihm ist ein hohes Mass an Selbstständigkeit wichtig, weil er sich eher schwer damit tut, Hilfe anzunehmen. Dafür ist er offen für Neues, was auch für den Sport gilt. Zuweilen fühlt es sich an wie eine Mutprobe. Aber Mut hat der Mann alleweil. Und Träume. Oder besser: Ziele. Er will ja eines Tages wieder einen Berg hochlaufen.
(von Peter Birrer, Paracontact 1/2025)