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    Bauen
    13.3.2023

    Für ein hindernisfreies Münsingen: «Ich nerve die Leute, bis sie mich hassen»

    Wenn Marco Baumann (31) sagt: «Ich bin Feuer und Flamme für meinen Verein», dann bestehen daran keine Zweifel. Der Rollstuhlfahrer setzt sich unermüdlich dafür ein, dass Münsingen für Menschen mit körperlichen Einschränkungen hindernisfrei wird. Dafür nimmt er in Kauf, dass er manchen Leuten auf die Nerven gehen muss. Für sein Engagement wurde er kürzlich mit der Münsinger Medaille ausgezeichnet.

    Stolz auf die Münsinger Medaille: Marco Baumann, Präsident des Vereins «Hindernisfrei durch Münsingen» mit Sekretärin Franziska von Below in seinem Büro im Wohnaus Belpberg. (Bild: Isabelle Berger)

    Dass in Marco Baumann eine solche Energie steckt, denkt man nicht, bevor man ihn persönlich trifft. Seit Geburt ist er cerebral gelähmt, sitzt im Rollstuhl, kann auch Arme und Hände nur eingeschränkt einsetzen. «Weil ich selber viele Hindernisse sehe, bin ich auf die Idee gekommen, den Verein 'Hindernisfrei durch Münsingen' zu gründen», sagt er. Diesen bezeichnet er als sein Lebenswerk.

    «Meine Vision ist es, dass Münsingen gänzlich hindernisfrei und die erste hindernisfreie Stadt der Schweiz wird», sagt er. So kämpft er dafür, dass Dinge wie Schwellen, Kopfsteinpflaster, Toiletten und Bushaltestellen so gemacht werden, dass sie den Bedürfnissen von Menschen mit körperlichen Einschränkungen gerecht werden.

    Erfolg bei Coop und im Parlament
    Sein grösster Erfolg bisher: «Im neuen Coop haben sie dank mir ein hindernisfreies WC gebaut, das zunächst gar nicht vorgesehen war.» Baumann mobilisierte die Münsinger SP, welche Unterschriften sammelte und damit die Bauherrschaft überzeugte. "Das ist ein wahnsinniger Erfolg für die SP und für mich als Vereinspräsidenten."

    Doch Baumann setzt sich nicht nur für einzelne Massnahmen ein. Ende letzten Jahres hat das Münsinger Parlament eine Motion angenommen, die er gemeinsam mit der ehemaligen EVP-Parlamentarierin Rebekka Renfer ausgearbeitet hatte. Die Motion verlangt, dass die Inklusion von Menschen mit Einschränkungen im Leitbild der Gemeinde verankert wird. "Inklusion ist ein wichtiger Schritt, damit alle Menschen in der Gesellschaft willkommen sind", so Baumann. Die Gemeinde habe nun den Auftrag, eine Inklusionsstrategie auszuarbeiten. "Wenn die kommt, werde ich als Vereinspräsident genau die Finger draufhaben." Er werde nicht lockerlassen, bis sie umgesetzt sei.

    «Manche grüssen mich nicht mehr»
    Baumann ist für seine Hartnäckigkeit bekannt. Wenn die Leute nicht machen, was sie sagten, dann habe er nur eine Antwort: «Kontrollieren, kontrollieren, kontrollieren.» Bis zum Beispiel die Bushaltestelle beim Altersheim Neuhaus eine Überdachung und ein Bänkli mit Lehne hatte, brauchte es mehrere Telefonanrufe auf der Gemeinde. «Manche finden es sehr mühsam mit mir», sagt er. Ein paar Leute aus dem Parlament grüssten ihn nicht mehr. Sie denken: «Ah, das ist der, der die Gemeinde nur wieder mehr kostet.» Aber damit müsse er als Vereinspräsident leben. «Es ist mir egal. Ich gehe den Leuten auf die Nerven, bis sie mich hassen. Auch wenn ich mich im ganzen Dorf unbeliebt mache.»

    Das glaubt man ihm. Seine Leidenschaft für das Thema Inklusion und seinen Verein spürt man deutlich. «Der Verein ist mein Ein und Alles. Er ist das, was meinem Leben Sinn gibt und die schönste Aufgabe, die man sich vorstellen kann», sagt er. So liest er gleich nach dem Aufstehen seine Mails und plant die anstehenden Aufgaben. Er ruft Leute zurück und macht sich Gedanken über die Ausgestaltung der aktuellen Anliegen. Auch abends, wenn er eigentlich müde sei, denke er an seine Arbeit. «Ich muss viel im Kopf behalten.»

    «Ohne meine Sekretärin wäre ich nichts»
    Darum erhält er Unterstützung von Franziska von Below. Sie ist die Sekretärin des Vereins. Sobald Baumann sich nicht mehr alles merken kann, übergibt er an sie. Einmal in der Woche kommt sie in sein Büro, das zugleich auch sein Zimmer im Wohnheim Belpberg in Münsingen ist. Von Below erledigt alles Administrative, schreibt E-Mails. «Sie hört es nicht gerne, aber ich habe Franziska sehr gerne, weil ich so wertvoll finde, was sie macht», sagt Baumann. Das sei für ihn nicht selbstverständlich. «Sie hilft mir, meinen Lebenstraum zu verwirklichen. Ohne sie wäre ich nichts.»

    Auch die anderen seiner insgesamt zwölf Vereinsmitglieder schätzt er. «Ohne mich gäbe es zwar den Verein nicht, aber ich kann ihn nur führen, wenn ich die richtigen Leute dazu habe», sagt er. Er wähle die Freiwilligen selber aus, weil er sehr hohe Ansprüche habe. «Ich will der Gemeinde Münsingen gute Qualität liefern.»

    Einsatz für alle Einschränkungen
    Im Verein sind sowohl Menschen mit als auch ohne Einschränkungen vertreten. Unter ersteren sind mit einem gehörlosen und einem sehbehinderten Mitglied, zwei Personen im Rollstuhl und einer am Rollator alle Einschränkungsgruppen vertreten, die Baumann bekannt sind. «So können wir Hindernisse aus allen Blickwinkeln beurteilen.» Dann würden sie mit einer Gesamtstrategie vor die Gemeinde gehen und diese in die laufenden Planungsprozesse einfliessen lassen. «Nur mit einem Einheitsbild kann es funktionieren und nur so sind wir in der Öffentlichkeit glaubwürdig.»

    Wie eine Goldmedaille
    Baumann schafft sich nicht nur Feinde mit seiner Arbeit. Sie wird auch geschätzt und sein Verein wird bei Projekten zu Rate gezogen. Die Gemeinde verlieh ihm für sein Engagement im letzten Jahr die Münsinger Medaille. «Damit hat mir die Gemeinde die grösste Freude meines Lebens gemacht», sagt Baumann. Das sei für ihn wie eine Goldmedaille. Wenn er sie anzieht, strahlt er übers ganze Gesicht.

    Doch das Ende seiner Ziele ist sie nicht. Er kämpft weiter für ein hindernisfreies Münsingen. Bis seine Vision wahr werde, werde es natürlich noch lange gehen. "Aber ich will, dass die Leute einmal sagen: 'Dr Buume isch e geile Siech. Der hat die Stadt hindernisfrei gemacht.'»

     

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