• de
    Bauen
    27.2.2023

    «Beim Lesen hat mir der Atem gestockt»

    Diesmal sind viele Emotionen im Spiel im Thurgauer Grossen Rat. Soll der Kurs des Regierungsrats in der Behindertenpolitik weitergeführt oder vor dem Finanzierungsgesetz ein Rahmenkonzept für den Bereich Wohnen und Arbeiten eingeschoben werden? Eine knappe Mehrheit entscheidet sich gegen den Willen des Regierungsrats für ein solches Rahmenkonzept.

    Menschen im Rollstuhl und Betreuerinnen verfolgen die Debatte im Foyer am Bildschirm. Die Besuchertribüne ist nicht rollstuhlgängig.Bild: Andrea Tina Stalder

    Der Grosse Rat befürwortet ein Rahmenkonzept in der Behindertenpolitik
    «Es braucht unbedingt ein Rahmenkonzept zur Behindertenpolitik in den Bereichen Wohnen und Arbeiten», sagt Kantonsrätin Nicole Zeitner (GLP, Stettfurt). Zusammen mit zehn Mitantragstellenden sowie 68 Mitunterzeichnenden hat sie den entsprechenden Antrag eingereicht.

    Der Regierungsrat sagt jedoch Nein dazu. Er lehnt den Antrag ab mit der Begründung, das gültige Behindertenkonzept und das aktuelle Leitbild des Kantons Thurgau würden die zentralen Forderungen der UNO-Behindertenrechtskonvention bereits enthalten und die Arbeit in der vorberatenden Kommission sei so weit fortgeschritten, dass mit einer Beratung im Grossen Rat im Frühjahr 2023 zu rechnen sei. Das sei dann der richtige Zeitpunkt für Kritik.

    «Beinahe den Mut und die Kraft verloren»
    Die Debatte und deren Ausgang hält einige Überraschungen bereit. Für viele Grossratsmitglieder kommt die Traktandierung des Geschäfts kurz nach den Skiferien unerwartet schnell. Es sei kaum genügend Zeit geblieben, sich seriös mit der Vorlage auseinanderzusetzen, führt Roland Wyss (EVP, Frauenfeld) aus. «Der Regierungsrat war ebenfalls überrascht über die kurzfristige Traktandierung», bestätigt Gesundheits- und Finanzdirektor Urs Martin.

    Für noch mehr Überraschungen sorgen aber zwei Kehrtwenden. Mit der Beantwortung des Antrags habe sich der Regierungsrat selbst eine Goldmedaille verliehen, indem er selbstlobend auf alles hinweist, was er bereits in der Behindertenpolitik geleistet habe. «Beim Lesen der Antwort hat mir der Atem gestockt, sodass ich beinahe den Mut und die Kraft verloren habe, weiter für dieses Rahmenkonzept zu kämpfen», sagt Nicole Zeitner. Ihre Kolleginnen und Kollegen sowie ein Grossteil der Mitunterzeichnenden hätten sie ermutig, dranzubleiben und nicht aufzugeben. Wer vertiefte Kenntnisse habe, der wisse, «dass definitiv nicht alles glänzt, was hier golden dargestellt wird».

    Der Paukenschlag folgt sogleich. Regierungsrat Urs Martin zitiert aus einem E-Mail von Nicole Zeitner vom 7. Februar 2023 an sein Amt: Sie werde aus verschiedenen Gründen ihren Kolleginnen und Kollegen vorschlagen, den Antrag zurückziehen. Sie möchte unter anderem der intensiven Arbeit der interdisziplinären Arbeitsgruppe eine Chance geben. Die vielen kritischen Fragen an den Prozess hätten dazu geführt, dass inzwischen enorm viel gearbeitet worden sei und mit der Einbindung von zusätzlicher fachlicher Unterstützung am 16. Februar sehr gute Ergebnisse der Arbeitsgruppen präsentiert werden könnten. Zeitner bestätigt dies und wiederholt: «Beim Lesen der Antwort hat mir der Atem gestockt, sodass ich beinahe den Mut und die Kraft verloren habe.»

    Während Zeitner weiterkämpft, ist Mitantragsteller Kurt Baumann (SVP, Sirnach) ausgestiegen. «Ich lehne den Antrag heute ab», sagt er. «Bevor man plant, muss man Regeln schaffen. Genau das wird nun erarbeitet mit dem Finanzierungsgesetz. Das Rahmenkonzept würde nur zusätzliche Ressourcen binden.»

    Unüblich grosser Andrang im Grossen Rat: Pro Infirmis Thurgau besucht mit einer Gruppe von Menschen mit Behinderung die Debatte.

    Nur die SVP ist einstimmig dagegen
    Wie werden die Fraktionen entscheiden? Darauf sind auch rund 40 Menschen mit Behinderung, ihre Betreuerinnen und Personen von und aus dem Umfeld von Pro Infirmis gespannt. Da die Zuschauertribüne nicht rollstuhlgängig und ohnehin beengt ist, müssen viele die Debatte im Foyer am Bildschirm verfolgen.

    Die GLP stellt sich klar hinter den Antrag, die Mitte/EVP-Fraktion mehrheitlich, ebenso ein grösserer Teil der FDP. Die Fraktionen von SP, Grünen und EDU sprechen sich einstimmig für den Antrag aus, die SVP ist einstimmig dagegen. Regierungsrat Urs Martin wirbt für die Ablehnung: «Die Antragsteller fordern einen Bericht über einen Bereich, der 20 bis 30 Prozent der Betroffenen umfasst. Der Regierungsrat liefert bis zum Ende des Jahres seinen Bericht für 100 Prozent», sagt er. «Sie bringen dadurch Sand ins Getriebe. Es ist völlig unnötig, weil sie nur einen Teilbereich beleuchten.» Dem entgegnet Nicole Zeitner: «Das Wohnen und Arbeiten ist zwar nur ein Teilbereich, aber es ist der Kernbereich. Die Zukunft wird ein Gleichstellungsgesetz sein, aber lassen sie uns das Schritt für Schritt angehen.»

    In der Abstimmung sprechen sich schliesslich 68 Grossratsmitglieder für die Erstellung des geforderten Rahmenkonzepts aus, womit das absolute Mehr erreicht und der Antrag erheblich erklärt wird. 51 Parlamentsmitglieder sprechen sich dagegen aus, drei enthalten sich der Stimme. Im Foyer fallen sich Zuschauende und Grossratsmitglieder in die Arme, da und dort muss gar eine Freudenträne unterdrückt werden. «Der Kampf hat sich gelohnt», sagt Nicole Zeitner. Regierungsrat Urs Martin nimmt es professionell und macht sich wieder an die Arbeit.

    Tagblatt